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Berufungsverhandlungen zwischen Zürich und Basel. Die Einrichtung einer Professur für makromolekulare Chemie

Kunststoffe wurden schon einmal in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an der ETH erforscht. Die Einrichtung eines eigenständigen Lehrstuhls auf diesem Gebiet stand aber erst Mitte der 1960er-Jahre zur Diskussion. Aus diesem Anlass warfen die "vier Basler chemischen Firmen" ihr ganzes Gewicht in die Waagschale.

Die ETH kann stolz darauf verweisen, dass der Chemiker und Nobelpreisträger von 1953 Hermann Staudinger seine Forschungsarbeiten zu Kunststoffen am Eidgenössischen Polytechnikum in Zürich begonnen hatte. Von 1920 bis 1926 waren am Institut für organische Chemie an die 20 Dissertationen entstanden, welche die experimentelle Grundlage für die Existenz von makromolekülen Stoffen bildeten, zu denen laut Staudinger auch die Kunststoffe zählten (Staudinger 1961, 87). Staudinger fasste ihre Ergebnisse 1926 in einem ersten grossen Vortrag auf der Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte in Düsseldorf zusammen. Dort war eigens eine Aussprache über das Problem anberaumt worden. Denn dass makromolekulare Verbindungen existieren sollten, das heisst Molekülketten aus tausend und mehr Atomen, wurde vor dem Hintergrund der prominent vertretenen Micellkolloidtheorien, die von aneinander gelagerten kleineren Molekülverbindungen ausgingen, äusserst kritisch diskutiert. So hatte der Zürcher Chemiker Paul Karrer im Jahr 1923 für seine Arbeiten über den Bau von Cellulose und Stärke, in denen er zu niedermolekularen Strukturdeutungen gekommen war, die höchste Wissenschaftsauszeichnung der Schweiz, den Marcel-Benoist-Preis, erhalten. Auch die röntgentechnisch gerade neu ausgerüstete Fachschaft Kristallographie war skeptisch. Staudingers Kollegen in Deutschland und der Schweiz sahen sich keineswegs veranlasst, die Argumente für die makromolekulare, auch 'polymer' genannte Struktur bestimmter Naturstoffe zu akzeptieren (Staudinger 1961, 85–86).

Hermann Staudinger 1917 in Zürich
Hermann Staudinger 1917 in Zürich

Für die deutsche Chemieindustrie jedoch erwies sich das neue Konzept in den 1930er- und 40er-Jahren als höchst tragfähig: Es stellte die im Nationalsozialismus politisch geförderte wissenschaftliche Arbeit an Ersatzstoffen auf eine ausserordentlich solide Basis. Die Kunststoffforschung erfuhr insbesondere in den Industrielaboratorien einen mächtigen Aufschwung. Umgekehrt trug die Erforschung synthetischer Polymerverbindungen durch die von Staudinger beratenen Industriechemiker der IG Farben zum Verständnis komplex gebauter natürlicher Polymere wie Kautschuk bei. Die Industrieforschung half auf diese Weise, die makromolekulare Chemie als neue Disziplin zu etablieren.

Die ETH-Professoren Peter Debye (sitzend) und Paul Scherrer (rechts) bei ihrem Kollegen, dem Polymerforscher Herman Mark (Mitte hinten), im Hauptlaboratorium der IG Farben Ludwigshafen. Aufnahme um 1930.
Die ETH-Professoren Peter Debye (sitzend) und Paul Scherrer (rechts) bei ihrem Kollegen, dem Polymerforscher Herman Mark (Mitte hinten), im Hauptlaboratorium der IG Farben Ludwigshafen. Aufnahme um 1930.
Nach Staudingers Weggang von Zürich nach Freiburg 1926 wurde den Kunststoffen an der ETH erst im Rahmen der Abteilung für industrielle Forschung AFIF 1936 wieder etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt. 1946 stellte ein Kooperationspartner der AFIF den Antrag zur Einrichtung eines Institutes für makromolekulare Chemie und Technologie. Ein solches Institut sei zwar wünschenswert, aber nicht dringlich, lautete die Meinung der zuständigen Kommission (Schulratsprotokolle, SR2:1946, Sitzung vom 14.3.1946, 118).

Erst 20 Jahre später wurde das Thema wieder aktuell. Die Basler Chemie ergriff die Initiative, als die Emeritierung der beiden Professoren für technologische Chemie vor der Tür stand. Sie drang bei der Schulleitung auf eine komplette Neuorganisation. Statt der bisherigen Zweiteilung in organisch-chemische und anorganisch-chemische Technologie plädierten die Firmen für drei Professoren, "die das Gebiet der aromatischen Chemie, der makromolekularen Chemie und der chemischen Verfahrenstechnik betreuen würden" (Schulratsprotokolle, SR2:1966, Sitzung vom 10.12.1966, 806). Auch dem scheidenden Professor Heinrich Hopff, der sich in der frühen Vinylpolymer- und Polyäthylen-Forschung bei IG Farben in Ludwigshafen-Oppau auf dem Kunststoffgebiet qualifiziert hatte, lag an einer Nachfolge in diesem Sinn. Bei "der stürmischen Entwicklung des Kunststoffgebiets, die mit den Fortschritten der Atomenergie vergleichbar ist und in ihrem Umfang für das Jahr 1970 auf 60 Milliarden Franken geschätzt wird", sei ein Ordinariat für makromolekulare Chemie wichtig, schrieb Hopff an den ETH-Präsidenten Jakob Burckhardt. "Eine solche Regelung ist auch bereits mit der Basler chemischen Industrie diskutiert und für notwendig befunden worden" (Schulratsprotokolle, SR2:1967, Sitzung vom 4.2.1967, 207).

Die Bewerbungen, die auf die Ausschreibung der Professur eintrafen, wurden nicht weiter berücksichtigt. Für persönliche Sondierungen orientierte sich die Schulleitung stattdessen an der Vorschlagsliste, welche die Chemieindustrie eingereicht hatte. Deren Spitzenkandidat sagte im Frühjahr 1967 zwar ab, aber auch der nächste Anwärter Piero Pino, Chemieprofessor an der Universität Pisa, nahm sofort Kontakt mit Basel auf. Es ergaben sich einige Komplikationen. Professor Pino, so Burckhardt, stehe unter dem Eindruck, man wolle seine gesamte Forschungstätigkeit kontrollieren, das heisst ihm die Verpflichtung auferlegen, über alle Forschungsergebnisse Rechenschaft abzulegen. Pino arbeite noch daran, einen weniger exklusiven Arbeitsvertrag zu vereinbaren. Im Februar 1968 traf sich der ETH-Präsident mit zwei Vertretern der Chemieindustrie, die ihm bestätigten, an der Berufung Pinos grosses Interesse zu haben. Sie insistierten freilich auf der Formulierung, vor allem einen international anerkannten Fachmann als Lehrer für angehende Chemiker gewinnen zu wollen. An seiner Beratungstätigkeit bestehe hingegen ein untergeordnetes Interesse (Schulratsprotokolle, SR2:1968, Sitzung vom 16.3.1968, 150).

Dies mag Pino bezweifelt haben, immerhin belief sich die jährlich gezahlte Summe aus Basel auf noch einmal siebzig Prozent seines Professorengehalts. Der Vertrag mit der Chemieindustrie beinhaltete u. a. ein dreimonatiges Exklusivrecht der Firmen an Resultaten, zu denen Pino und seine Forschergruppe in Teilgebieten "von besonderem Interesse" kommen würden. Jede Firma definierte solche Interessensfelder für sich und aktualisierte deren Zuschnitt regelmässig (Schulratsakten, SR3:1968, Nr. 615.17, Dossier Pino, 3. Dokument, Zusammenarbeitsvertrag).

Die Geschichte der Kunststoffe zeigt, dass ihre Erforschung je nach Perspektive bzw. juristischer Festlegung nobelpreiswürdige Grundlagenforschung oder anwendungsorientierte Forschung war. Die Forschungsmodalitäten bestimmten die Akteure der wissenschaftsbasierten Chemieindustrie ebenso mit wie die Abteilung IV der Technischen Hochschule. Dies geschah einmal über die Vergabe von privaten Geldern an die ETH-Institute. Ferner auch über organisatorische Absprachen. So löste das angelsächsische Departement-System im Zuge von Pinos Berufung tatsächlich das Ordinariatsprinzip in den Technisch-Chemischen Laboratorien ab, wie es die Basler Seite gefordert hatte (Schulratsprotokolle, SR2:1967, Sitzung vom 4.11.1967, 781).

Andrea Westermann

   
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