Rädchen im kapitalistischen Getriebe
Die 68er-Proteste setzten auf die Suggestion von Bildern und Medienpräsenz. Eine Karikatur zum Hochschulstudium an der ETH verrät viel über die politische Vorstellungswelt des Zeichners und seines Publikums.
In Deutschland gehen die Meinungen darüber auseinander, ob die Jahre und Ereignisse, die heute unter der Chiffre '1968' erinnert werden, eine tiefe Zäsur für die Gesellschaft darstellten oder ob die Selbstinszenierung der so genannten Studentenbewegung und die Medienaufmerksamkeit, die sie erhielt, einfach nur viel Staub aufwirbelten. Muss man angesichts der Wandlungen in der politischen Kultur und im Umgang mit der NS-Vergangenheit von einer regelrechten 'Umgründung' der Bundesrepublik sprechen oder blieben die Ereignisse nicht doch auf eine verhältnismässig kleine Gruppe von Menschen beschränkt? Für die Schweiz fällt eine Bewertung leichter. Obwohl Veränderungen der politischen Kultur auch dort zu bemerken waren, bildeten die studentischen Proteste um 1968 in dieser Hinsicht keinen zentralen Wendepunkt.
 "Das ETH-Gesetz erhöht die Durchlaufgeschwindigkeit." Karikatur im Zürcher Studenten von 1969.
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Immerhin bot die hochschulpolitische Diskussion 1968/69, die anlässlich der gesetzlichen Neufundierung der beiden technischen Hochschulen in Zürich und Lausanne losgetreten wurde, kurzfristige Anschlussmöglichkeiten an die Studentenbewegungen der Nachbarländer: Auch ETH-Studierende forderten die Verankerung studentischer Mitspracherechte im Hochschulreglement und hinterfragten die gesellschaftlichen Werte, die sich in den Lehrplänen des Ingenieur- und Naturwissenschaftsstudiums spiegelten. Besonders die Studierenden und Assistierenden der Abteilung Architektur nahmen den Zusammenhang zwischen Gebäude- und Gesellschaftsentwürfen ernst.
Die Medienformate Flugblätter, Karikaturen, Protestsongs und Slogans waren beliebt. "Bilderflut und Lesewut" (Inge Münz-Koenen) prägten auch die imaginären Welten der schweizerischen Achtundsechziger. Die studentische Assoziationslust trieb manchmal reichlich verquere Blüten, wie eine im Zürcher Student vom Februar 1969 wieder abgedruckte Karikatur der zeitgenössischen Ausbildungsmaschinerie zeigt. Mit dem neuen Untertitel "Das ETH-Gesetz erhöht die Durchlaufgeschwindigkeit" wurde sie an die Zürcher und ETH-Verhältnisse angepasst.
Die Mechanismen der Gesellschaft sind, so wird auf den ersten Blick deutlich, kapitalistisch-industrielle. Die Bedeutung der Maschine ist schillernd: Studierende werden verheizt und durch Ausbildungsmühlen gedreht. Die Bildungsziele sind aussen angeschlagen: Fleiss, Disziplin und Geld. Im Vordergrund stehen ein Kleriker und ein einflussreicher Unternehmer einträchtig beisammen. Sie personifizieren diese durch und durch korrumpierten Werte, zugleich wird mit der Figurenkonstellation die kirchlich abgesegnete gesellschaftliche Anbetung des kapitalistischen Systems gekonnt karikiert.
Die Zeichnung denunziert Gleichmacherei und Systemkonformismus als nicht explizite, aber ebenfalls angestrebte Bildungseffekte. Der ETH-Absolvent verlässt im Stechschritt und mit Anzug die Lernfabrik. Auch das Zählwerk über dem Ausgang veranschaulicht die industriellen Prinzipien der Rationalisierung und Effizienz, die der junge Technokrat verkörpert. Die Maschine kann noch mehr: Sie selektiert die Studierenden. Zwar bleiben die genauen Kriterien schleierhaft, doch 'Unverbesserliche' fliegen im hohen Bogen raus. Dieses Detail erfährt seine Ausformulierung und Zuspitzung in der Losung "Arbeit macht frei", mit der die Szene überschrieben ist. Die Ausbildungsmaschinerie der ETH wird mit einem Konzentrationslager verglichen, was so provozierend dreist wie geschichtsblind ist.
Andrea Westermann