Das Auslandssemester
Das Auslandssemester kann mit einem traditionellen Initiationsritual, der Bildungsreise, verglichen werden. Für schweizerische Ingenieure war ein Aufenthalt in den als technikbegeistert geltenden USA besonders aufregend.
"Als dann die Küste Englands ganz verschwunden war, und das grosse Schiff sich durch die stürmische See westwärts kämpfte, da lösten sich auch unsere Gedanken langsam vom alten Kontinent, und wir standen ganz im Banne des Ungewissen und des Neuen, das uns in dem Wunderlande erwartete." Es ist kein Abenteuerroman, der so beginnt, sondern der Bericht eines Austauschstudenten an den Schweizerischen Schulrat 1952. Aufbruchsituationen verunsichern. Erzählstrukturen und ritualisierte Handlungsformen helfen, sie zu bewältigen. Die Parallelführung von äusserer Bewegung und innerer Bewegtheit bei Schiffspassagen beispielsweise, auf die der frischgebackene ETH-Maschinenbauabsolvent Niedermann verfiel, ist ein klassisches literarisches Aufbruchmotiv. Die Hoffnungen und bangen Erwartungen, die sich mit den Auslandssemestern in Amerika verbanden, bündelten sich zudem im gewollt ironisch angeführten Topos von Amerika als dem "Wunderlande" (Schulrat Varia, SR4:6:1961/52, Besondere Abmachungen mit amerikanischen Hochschulen).
Mitbauen am Mythos Amerika. Der ETH-Absolvent Othmar H. Ammann ging 1904 nach New York und konstruierte Hängebrücken, z. B. ab 1927 die berühmte George Washington Bridge über den Hudson River in Manhattan. Ansicht des bereits fertig gestellten Fussgängerwegs von 1929.
|
Der schweizerisch-amerikanische Studentenaustausch bestand seit 1926. In den ersten Jahren bis zum Zweiten Weltkrieg konnten jährlich zwischen zehn und fünfzehn Studierende mit Stipendien oder Studiengebührenerlass ausgestattet für ein Jahr an einer US-amerikanischen Hochschule studieren. Im Gegenzug kamen fünf bis zehn amerikanische Studenten in die Schweiz. Während des Zweiten Weltkriegs musste das Austauschprogramm eingestellt werden. In den frühen 1950er-Jahren stiegen die Zahlen auf um die vierzig Studierende pro Jahr. Verglichen mit aktuellen Stipendienzahlen waren Auslandssemester in Amerika damals etwas Besonderes. Dies gilt vor dem Hintergrund, dass sich die Urlaubs- und Arbeitsmobilität der schweizerischen Gesellschaft seither stark erhöht hat, umso mehr.
|
Anfangs achtete die schweizerische Austauschkommission unter dem Vorsitz des ETH-Schulratspräsidenten darauf, vor allem höhere Semester, Absolventen oder Doktoranden nach Amerika zu schicken. Damit sollte eine reibungslose Integration in die ausländischen Forschungsabteilungen oder Universitätskrankenhäuser sichergestellt werden. So waren die Studierenden angehalten, in den Zwischen-
und Abschlussberichten an die Austauschkommission darüber zu berichten, wie schwer oder leicht ihnen die Eingewöhnung und der Anschluss an die Lehre, Forschung oder den Berufsalltag gefallen waren. Sie spekulierten aus diesem Anlass meist über die hochschulpolitischen oder mentalitätsspezifischen Gründe dieser Erfahrungen. Die Berichte erschöpften sich jedoch nicht in Beschreibungen des universitären Umfelds. Fast immer stellte sich der Bildungsreise-Effekt ein: Die Begegnung mit der fremden Kultur veranlasste die Verfasser zu politischen Statements, und sie dachten laut über ihre persönliche Werteordnung nach. So blieb New York, wo die Schiffe aus Europa in der Regel anlegten, selten unerwähnt, seine "vertikale Ausdehnung wirkt auf den durch die
Strassen wandernden Europäer, der Zeit für solche Betrachtungen hat,
eher deprimierend", lautete beispielsweise das negative Urteil eines
Politikwissenschaftsstudenten (Schulrat Varia, SR4:6:1927-1938.3, Bericht Hafter
1933). Aber wie immer man zu Amerika stand: Beim Studienaufenthalt in den USA handelte es sich um
einen aussergewöhnlichen Lebensabschnitt.
"Rückblickend muss ich schon sagen", so schrieb der Bauingenieurabsolvent Vollenweider, der das Studienjahr 1950/51 wie Niedermann an der University of Kansas verbrachte, "dass diese Zeit in Amerika mir zu einem unbeschreiblich tiefen und wertvollen Erlebnis geworden ist." Vollenweider hob den freundlichen Empfang durch seine privaten Gastgeber, das "Studium an und für sich", die beruflichen Erfahrungen und die Freundschaft mit anderen schweizerischen Austauschstudenten hervor. Besonders aber hatten ihn "ganz allgemein die menschlichen Beziehungen und der Mangel an Klassenunterschied" der amerikanischen Gesellschaft beeindruckt.
|
Ansicht der George Washington Bridge von 1942.
|
"Schon der Baubeginn lehrte mich eigenartige Neuigkeiten. Der Chef-Ingenieur in khaki Hemd mit offenem Kragen hinter dem Instrument, das er auch immer selbst auf die eigene Schulter nahm. Da musste ich langsam umlernen, statt Mr. Charles und Mr. Hanna Forrest und Bill zu sagen zu meinen höchsten Vorgesetzten."
(Schulrat Varia, SR4:6:1951/52, Besondere Abmachungen mit amerikanischen Hochschulen)
Vollenweider staunte in seinem Job, den er ebenfalls hatte finden können, über die Allrounderfahrung des Leitungspersonals. Sie übernahmen von den ersten Bodenuntersuchungen bis zur Feinabstimmung der Instrumente und elektrischen Anlagen den gesamten Bau einer Chemiefabrik. Vollenweider erklärte sich das Phänomen mit zwei unterschiedlichen Praxiskulturen. Er stellte einem amerikanischen Pragmatismus die europäische Lust an der Suche nach letzten Dingen gegenüber. "Entsprechend unserer Erziehung wollen wir zuerst wissen warum und für was, und erst dann wird gebaut." Die amerikanischen Ingenieure liessen sich dagegen einfach auf ein "Zusammensetzspiel nach Rezept" ein. "Nicht, dass nun der ganze Prozess von diesen verantwortlichen Ingenieuren nach unserem ETH-Begriff verstanden wurde", wusste Vollenweider, was ihm in manchen Fällen dann doch brisant schien: "Wie mir von einem Fachmann, der dabei gewesen ist, bestätigt wurde, hat man all die Atomkraftwerke auf genau gleiche Art und Weise zusammengestellt, nur wenige wissen genau, was wirklich vorgeht."
Der Hochschulingenieur mache in den USA auch die Arbeit von Technikern und dies rechtfertige eine weniger spezialisierte Berufsausbildung. Unversehens fand sich Vollenweider im "Standarddiskussionsproblem No I unter Foreign Students" wieder: das amerikanische Erziehungssystem. Gegenüber den weiterführenden graduate schools, die forschungsinteressierte Ingenieure aufnahmen, optierte er in der Frage, wann und wo Basiswissen zu vermitteln sei, für den ETH-Lehrplan, der "hieb- und stichfeste elementare Grundlagen" bereits im Grundstudium anbot.
Andrea Westermann