Weltpolitik und Wohngruppe. Der Linksrutsch des VSETH
Im
Zuge des Abstimmungskampfes gegen das so genannte ETH-Gesetz Ende 1968
radikalisierte sich der VSETH und positionierte sich erstmals in
seiner Geschichte als linke Organisation mit radikaldemokratischem Programm. Dieser Kurs war gegenüber den Studierenden
nicht lange mehrheitsfähig und mündete in einer Nabelschau.
Schon
1965 hatte der VSETH das während eines zweitägigen Seminars erarbeitete
Konzept "Drei Thesen zum ETH-Studium" vorgelegt. Darin forderten die Studierenden, das ETH-Studium
dürfe nicht zum "menschlichen Engpass" werden. Eine "bewusste Auseinandersetzung mit dem tausendfältigen
Spektrum unseres Tuns" und das "Wissen um die Tragweite des eigenen
Handelns" sollten neben dem Fachstudium unbedingt auch zu den
Lehrzielen der Hochschule gehören – wieder gehören, möchte man
hinzufügen, denn die studienreformerischen Überlegungen 1965 glichen
sogar im sprachlichen Duktus noch stark den Jahrzehnte alten
Diskussionen um akademische Bildungsideale und die Erziehung zukünftiger
Führungskräfte. Fünf Jahre später – die Jahre 1967 bis 1969 wurden bereits international mit Studentenunruhen in Verbindung gebracht – hatte eine neue Generation von VSETH-Funktionären einen "radikaldemokratischen"
Kurswechsel vollzogen und urteilte diese alten Standpunkte harsch ab:
"Das
Ablaufen des Kalten Krieges liess die Widersprüche zwischen den
Interessen der Studenten und der Behörden (=Repräsentanten des
Kapitals; dessen waren sich die Studenten damals aber überhaupt nicht
bewusst) stärker hervortreten. ...
I d e o l o g i s c h wurden damals zwei Momente bedeutsam, die sich
mit den Schlagworten:
* "mehr humanistische Ausbildung" und
* "Mensch
und Technik"
kennzeichnen lassen. ... Statt dass aber die
kapitalistische Form der Verwertung von Wissenschaft und Technik
erkannt und kritisiert wurde, blieben die Studenten mit der
'antitechnischen' Kritik in der Phänomenologie stecken: sie sahen nur
eine scheinbar sich verselbständigende, immer allmächtigere Technik,
welcher 'der' Mensch gegenübersteht."
(VSETH 1970, 136)
Auch
an selbstkritischer Einsicht mangelte es nicht. Soweit nach links
gerückt, konnte der VSETH nach 1969 nicht mehr beanspruchen, alle Studierenden zu repräsentieren. Das Autorenkollektiv der
zitierten VSETH-Analyse von 1970 "Entwicklung und Perspektiven der
Politik einer offiziellen Studentenschaft" machte klar: "Eine solche
ultralinke Politik hätte nicht einmal einen provokativen Effekt,
sondern einen kontraproduktiven Effekt: Stärkung der Rechten und
Übernahme des Vorstandes durch die Rechte". Bevor man auf das Dilemma reagierte und sich strategisch neu positionierte, nahm man sich vor, zunächst das "Bewusstsein" bzw. das "Selbstbild" der ETH-Studierenden genauer aufzuschlüsseln.
Als
erste Umsetzung des Vorschlags wurde noch im selben Jahr eine weitere VSETH-Dokumentation vorgelegt,
"von Studenten über Studenten mit dem Ziel einen Betrag zu leisten zur
Optimierung von studentischem Wohnen und aufgewendeten öffentlichen
Mitteln". Sie schraubte den Massstab studentischer Politik zurück, ohne
auf Generalisierungsansprüche gänzlich zu verzichten. Denn dass das
Private auch öffentlich sei, gehörte zur Überzeugung der von
Universitäts- und ETH-Studierenden gemeinsam getragenen
Wohnungskommission WOKO, die in der Studie im Mittelpunkt
stand. Sie evaluierte die bisherige Projektarbeit der 1956 gegründeten WOKO.
Insbesondere
ihre Auseinandersetzung mit der studentischen "sozialen Rolle" ermöglicht
einen Einblick in das damalige Selbstverständnis der Studierenden.
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Offenbar sahen sie sich unter Rechtfertigungszwang: Gegenüber Gleichaltrigen, die bereits eine feste Stelle im Produktionsprozess
angetreten hätten, so die Autoren reichlich defensiv, erbringe man
selbst weder eindeutig messbare noch bezahlte Leistung. Die
finanzielle Unsicherheit zog, so hatten die Autoren der WOKO-Dokumentation beobachtet, ein allgemeines Grundgefühl der
Unsicherheit und Abhängigkeit nach sich, die Negativ-Definition des
Studentenstatus als einer Phase des "Noch-Nicht" trug ebenfalls dazu bei. Das
WOKO-Modell der Wohngruppe reagierte nach Ansicht der studentischen Trägervereine auf eben diese Situation in sozialer und
baulicher Hinsicht. Es kam dem Bedürfnis nach Kontakt und
Gemeinschaft entgegen und verhinderte damit, dass Studierende zu weltfremden
Stubengelehrten und Fachidioten wurden. Selbstverwaltung statt eine "für
studentische Belange uneinsichtige Berufsverwaltung" und die Idee einer
mobilen Gruppenkonstellation zeichneten das WOKO-Modell
aus. Es sah frei einteilbare Einheiten von Privatzimmern und Gruppenräumen vor statt des üblichen trostlosen Korridors samt schmaler Gemeinschaftsküche.
1969/70 gingen bei der WOKO 301 Anmeldungen
für Zimmer und 41 Anmeldungen von Ehepaaren für Wohnungen und
Doppelzimmer ein. Der grossen Nachfrage standen 255 Zimmer und 22 Wohnungen
gegenüber, etwa ein Drittel der Zimmer und Wohnungen wurden in dem
Jahr neu vermietet. Damit konnten etwa 2,5 Prozent der Studierenden mit
günstigem und selbst verwaltetem Wohnraum versorgt werden.
Andrea Westermann