Eidgenössischer Fächermix
Im
Vergleich zu ähnlichen Einrichtungen im Ausland bot das eidgenössische
Polytechnikum im 19. Jahrhundert ein ausserordentlich breites Fächerspektrum an.
Dies lag daran, dass das Polytechnikum lange Zeit die einzige
bundesstaatliche Hochschule war.
1892 ersuchte der Schulrat den Bundesrat,
den ordentlichen Bundesbeitrag an das Polytechnikum um die Hälfte auf 800'000.–
Franken jährlich zu erhöhen. Einen Teil des Mehrbedarfs begründete der Schulrat
mit der Notwendigkeit, sechs neue Professuren zu schaffen. Dabei geriet er in
einen gewissen Erklärungsnotstand. Mit den 51 Lehrstühlen für fest angestellte
Professoren, welche die Anstalt zu Beginn des Schuljahres 1892/93 aufwies, nahm
sie im deutschen Sprachraum nämlich bereits die Spitzenposition ein. Die Technische
Hochschule in Berlin, deren Frequenz mit über 2000 Studenten und Hörern doppelt
so hoch war wie diejenige des Zürcher Polytechnikums, musste im selben
Schuljahr mit lediglich 37 Professoren auskommen.
 Festkarte zu den Jubiläums-Feierlichkeiten von 1905: In den ersten fünfzig Jahren wuchs am Polytechnikum ein weit verzweigter Disziplinenbaum heran.
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"Die Zahl von Professoren mag gar gross erscheinen neben der, welche auswärtige technische Hochschulen gleichen Ranges aufweisen; der unmittelbare Vergleich mit diesen kann aber nicht zutreffen", erläuterte der Schulrat in seinem Antrag diesen Sachverhalt, "denn unsere Schule hat eine vielgestaltigere, umfänglichere Anlage, die eine grössere Zahl von Lehrern aller Art bedingt. Die auswärtigen technischen Hochschulen enthalten keine Abteilungen für Landwirtschaft, keine auf so breiter Grundlage angelegte, gleich der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät einer Universität ausgestattete Abteilung der Fachlehrer; keiner der auswärtigen Schulen ist eine allgemeine philosophische und staatswirtschaftliche Abteilung in gleichem Umfange wie die VII. Abteilung unsers Polytechnikums beigegeben, und keine hat für Unterricht in zwei Landessprachen zu sorgen." Was die personelle Dotierung der technischen Abteilungen betreffe, stehe das Zürcher Polytechnikum hinter den führenden technischen Hochschulen des Auslandes zurück. Hier bestehe daher Handlungsbedarf, wenn Zürich seinen Rang im internationalen Spitzenfeld behaupten wolle.
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Die schulrätlichen Hinweise auf die Vielfalt
der eigenen Fächerpalette waren noch nicht einmal vollständig. Forstwissenschaften
bot im deutschsprachigen Raum lediglich noch Karlsruhe als Hochschulfach an,
Kulturingenieure und Pharmazeuten bildeten nur eine Minderheit der deutschen
technischen Hochschulen aus. Die Verankerung der Militärwissenschaften an einer
Hochschule war gar ein Zürcher Unikum. Von den Randfächern technischer
Hochschulen waren einzig die Bergbauwissenschaften und die Hüttenkunde in
Zürich nicht vertreten.
Kurz gesagt: Das Zürcher Polytechnikum stach aus der deutschsprachigen Hochschullandschaft heraus. Die vier technischen Kernfächer Hochbau-, Ingenieur- und Maschinenbauwissenschaften sowie technische Chemie wurden in Zürich von einem bunten Strauss weiterer Fächer umgeben. Einige dieser Fächer waren der Schule bereits bei ihrer Gründung mitgegeben worden: die Forstschule, der pharmazeutische Lehrgang, die allgemeine philosophische und staatswissenschaftliche Abteilung. Andere wurden in den folgenden Jahrzehnten an die Schule herangetragen. Zum Jahr 1866 wurden die mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächer zu einer eigenen "Abteilung für Bildung von Fachlehrern" aufgewertet, 1871 wurde eine landwirtschaftliche Schule, 1878 eine Militärabteilung und 1888 eine Kulturingenieurschule angegliedert.
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Die Initiative zu diesen Erweiterungen ging
stets von professionellen Interessenorganisationen aus, die ihre Anliegen
jeweils direkt an den Bundesrat richteten: vom schweizerischen Lehrerverein,
von landwirtschaftlichen Organisationen und vom Militär. Nicht immer nahm die
Schulleitung diese Anregungen wohlwollend auf. Die ersten Begehren zur Schaffung
einer Landwirtschaftsschule und einer Militärabteilung lehnte der Schulrat aus inhaltlichen
Gründen ab. Beide Abteilungen wurden erst nach mehreren erfolglosen Anläufen
verwirklicht.
Für die sich zunehmend auf
nationalstaatlicher Ebene organisierenden Interessensverbände wurde das
Polytechnikum als einzige bundesstaatliche Lehranstalt zur attraktiven Adresse,
an der sie ihre berufsspezifischen Bildungswünsche zentral deponieren konnten. Indem das Polytechnikum
diese Wünsche berücksichtigte und teils berücksichtigen musste, wie im Falle der Militärwissenschaften, die
schliesslich über die Revision der eidgenössischen Militärorganisation von 1874
ans Polytechnikum beordert wurden, stärkte es seine Stellung als nationale Schule. Andererseits musste die
Anstalt darauf achten, dass bei den Arrondierungen des Disziplinenkanons ihre
eigenen Standards für Lehre und zunehmend auch für Forschung nicht in
Mitleidenschaft gezogen wurden. Diese richtete das Polytechnikum an
internationalen Massstäben aus, insbesondere an den führenden technischen
Hochschulen Deutschlands. Als 1882 das eidgenössischen Parlament die Frage klären wollte, "ob die landwirthschaftliche Schule am Polytechnikum der
vaterländischen Landwirthschaft nicht nutzbarer gemacht werden könnte", betonte
der Schulrat: "Nach dem Gründungsgesetz ist die landwirthschaftliche Abtheilung
eine wesentlich höhere wissenschaftliche
Anstalt ohne Gutsbetrieb. An dieser Organisation ist auch in Zukunft
festzuhalten."
Patrick Kupper