Öffentlicher Verkehr zwischen Produkt und Politik. Der Verkehrsingenieur Heinrich Brändli als Grenzgänger
Moderner Städtebau war im 20. Jahrhundert ein Lieblingsthema von Ingenieuren und Architekten. Die Planung und der Betrieb der zugehörigen Verkehrs- und Mobilitätssysteme verpflichten zu häufigen Blick- und Seitenwechseln, meint Heinrich Brändli.
Heinrich Brändli war bis Ende 2003 ETH-Professor für Verkehrsingenieurwesen am Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme IVT und Leiter der Fachbereiche öffentlicher Verkehr und Eisenbahnbau. Seit 1975 hatte er den staats- und industrienahen Ingenieur verkörpert, den schon die Polytechnikumsgründer vor Augen hatten, als sie in der zuständigen bundesrätlichen Expertenkommission 1851 wünschten, "dass der Unterricht, den unsere jungen Techniker erhalten, auf die Anlage und Erhaltung der Gebirgsstrassen mit und ohne Schienen, die sorgfältigste Rücksicht nehme" und das bereits gewonnene Praxiswissen "zur weitern Ausbildung des Strassenbauwesens benutzt und den angehenden Ingenieuren mitgeteilt werden" sollte. Brändlis Expertenwissen machte sich für die Schweiz in mehrfacher Hinsicht bezahlt. In seiner Abschiedsvorlesung am 20. November 2003 legte er ein Flussdiagramm seiner sehr schweizerischen Karriere vor, der es dennoch nicht an internationalen Kontakten fehlte.
1961 schloss Brändli an der bauwissenschaftlichen Abteilung der ETH bei Kurt Leibbrand, Professor für Eisenbahn- und Verkehrswesen, sein Studium ab. Im Frühjahr 1963 engagierten ihn die Verkehrsbetriebe der Stadt Zürich VBZ. Als Chef der Planungs- und Hauptabteilung Verkehr und Betrieb oblagen ihm die Projektierung einer U- und S-Bahn für Zürich (Brändli 2003, 5). Er sass im bundesdeutschen Verband der öffentlichen Verkehrsbetriebe ebenso ein wie im entsprechenden schweizerischen Verband und hob mit Kollegen den Berufsverband Vereinigung Schweizerischer Verkehrsingenieure SVI aus der Taufe. 1975 wechselte Brändli ohne akademische Erfahrung an die ETH zurück, wie er anlässlich der Emeritierung noch einmal betonte.
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 Heinrich Brändli.
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"Es folgte mein schlimmstes Berufsjahr. Kein direkter Vorgänger, völlig neue 'Hochschulwelt' – ich war nie Assistent –, keinen Berufungskredit. ... Es fehlte das hektische Umfeld mit weit über tausend Mitarbeitern, in dem man ständig führen, bewegen, entscheiden und umsetzen kann und auch muss."
(Brändli 2003, 7)
Brändli übernahm im Prinzip die Professur seines hoch geachteten Lehrers und Vorbilds Leibbrands (Brändli 2003, 4). Jener galt auf dem Gebiet der Verkehrsplanung als Kapazität und beeindruckte mit reicher Praxiserfahrung: Er hatte u. a. Gesamtverkehrspläne für Münster, Memmingen, Basel, Fribourg und Zürich entwickelt. Seine Lehrbücher gehörten zu den deutschsprachigen Standardwerken. Gerade 1961 aber musste er sich vor deutschen Gerichten wegen der Anklage als Kriegsverbrecher verantworten. Ihm wurde vorgeworfen, als Oberleutnant der Wehrmacht nach SS-Manier die Erschiessung von mehr als 20 italienischen Soldaten befohlen zu haben. Der Fall Leibbrand wurde um die Jahreswende 1962/63 in Zürich heftig diskutiert. Leibbrand sah sich kurz danach zum Rücktritt von seiner ETH-Stelle gezwungen (NZZ vom 22.2.1963). 1966 wurde das Urteil im Sinn der Anklage bestätigt, die Tat war jedoch verjährt.
Leibbrands kontextsensible Vorstellungen von Verkehr hat sich Brändli zu eigen gemacht: Die grundsätzlichen Verkehrsprobleme seien zwar weltweit dieselben, sie bedürften aber stets massgeschneiderter Prototyp-Lösungen (Brändli 2003, 4 und 23). Daher war für ihn die schweizerische Forschungspolitik auf die Anforderungen des Verkehrsbereichs ideal zugeschnitten. Im Unterschied zu den grossen Nachbarländern Deutschland und Frankreich habe man nicht mit massivem Einsatz öffentlicher Mittel auf radikale Systeminnovationen gesetzt. Das Geld des Bundes floss vor allem in die verkehrswissenschaftliche Lehre an der ETH, Systementwicklungen basierten dagegen auf Initiativen der Wirtschaft: "Sie wachsen am Markt mit hohem Zeitbedarf" (Brändli 2003, 7). Die Entwicklungen folgten dem Prinzip der schrittweisen Innovation und setzten auf organisationelle Neuerungen bei laufendem Betrieb.
Das Verständnis von Verkehr als einem vernetzten
System aus "Markt, Betrieb und Technik" macht Grenzgängertum in diesem
Feld beinahe verpflichtend. Der Fachbereich ÖV und die schienengebundene Verkehrswirtschaft arbeiteten auf wirtschaftspolitischem Gebiet eng zusammen.
1976 gründete das IVT zusammen mit dem Bund, der SBB und der
Rollmaterialindustrie den Wirtschaftsverband Swissrail Export
Association, heute Swissrail Industry Association, dem Brändli für zehn
Jahre vorstand.
Dass auch Wertewandel und politische
Wechselfälle zu diesem System gehören, war eine Lektion, die Brändli noch vor Antritt seiner
Professur vertiefte. In den 1950er-Jahren stellten sich die meisten
europäischen Kommunen auf Wachstum ein. Wie Kurt Leibbrands
Gesamtverkehrspläne verdeutlichen, galt eine vorausschauende Stadt- und
Verkehrsplanung als Bedingung für den wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Take-off in die Nachkriegsmoderne. Der Gegenstand
der Planung war nicht neu. Urbane Zukunftsentwürfe von Architekten
und Ingenieuren hatten seit den 1920er- und 1930er-Jahren Konjunktur,
einflussreiches architektonisches Leitbild blieb auch nach 1945 die
funktional differenzierte Stadt. Den verkehrlich-technischen
Infrastrukturen kamen in diesem Konzept die zentralen Erschliessungs-
und Scharnierfunktionen zu. Die Strassen-, Eisenbahn-, Tram-, und
U-Bahnnetze und ihre optimal aufeinander abgestimmten Knotenpunkte
waren dafür verantwortlich, die Einheit der auseinander gezogenen
Bereiche Wohnen, Arbeiten und Erholen zu gewährleisten. Vorstellungen
einer autogerechten Stadt und Konzepte dicht ausgebauter öffentlicher
Verkehrsdienstleistungen standen sich dabei regelmässig gegenüber.
Anfang der 1970er-Jahre kollabierte diese
Unterscheidung in Zürich auf ungewöhnliche Art und Weise. Assistierende
und Studierende vornehmlich der ETH-Architekturabteilung machten seit
1971 als Arbeitsgemeinschaft Umwelt AGU gegen das lang geplante Projekt
der städtischen Autobahnen mobil, das unter dem Namen Y-Lösung bekannt
wurde. Im Mai 1973 standen die gleichzeitig entwickelten
Pläne der Verkehrsbetriebe Zürich für ein U- und S-Bahnnetz zur
Abstimmung und scheiterten. Die Stimmung war gekippt. Statt als
Alternative zum Individualverkehr zu überzeugen, erschien nun
insbesondere die U-Bahn als Grossstadtphantasie, die den
kapitalistischen Wachstumsambitionen in die Hände spielte. Die SP
verteilte Flugblätter, die die Zürcher wissen liessen, dass die U-Bahn
"nicht uns Arbeitern, Angestellten und Mietern, sondern den
Grundbesitzern" diene sowie den "Expansionsabsichten gewisser
Wirtschaftskreise, die von der Verdrängung der Stadtbewohner
profitierten" (zitiert nach Blanc 1993, 153). Der junge
VBZ-Verkehrsingenieur Heinrich Brändli, der das Konzept massgeblich
mitentwickelt hatte, stand nach der "seltsamen Ablehnung unser Zürcher
ÖV-Projekte ... durch die politische Linke" vor einem
"Riesenscherbenhaufen" (Brändli 2003, 18 und 21). Ihm hallten die
Protestrufe "Wir wollen kein Manhattan" noch lange im Ohr.
Heute hat der schweizerische ÖV europaweit Vorbildcharakter. Wenn in der Schweiz Systeminnovationen im ÖV-Bereich marktnah und ohne grosse Finanzspritzen des Staates gelingen, ist dies wohl auch einem 'Brändli-Effekt' zu verdanken. Ob in den Behörden, den lokalen Verkehrsbetrieben, bei der SBB und anderen Eisenbahngesellschaften oder den Unternehmen der Bahnindustrie und Verkehrsberatung: Während knapp dreissig Jahren gingen angehende ÖV-Fachleute durch die Schule Brändli. Das IVT übernahm im Alleingang die Ausbildung des kantonalen, eidgenössischen und privaten Fachpersonals auf dem Gebiet des Verkehrswesens. So haben alle Beteiligte ein und dieselbe Sozialisation zum Verkehrsingenieur durchlaufen, statt etwa von 21 ÖV- und Eisenbahnprofessoren wie in Deutschland ausgebildet zu werden. Vermutlich konzeptionalisieren die Mitglieder der schweizerischen ÖV-Szene daher die Probleme auf ähnliche Weise und tun sich in der Zusammenarbeit leichter.
Andrea Westermann