Life Sciences als Techno Sciences
Die Entwicklung der Life Sciences wurde nach 1945 durch neue Techniken vorangetrieben. Aber auch die Forschungsorganisation in den USA spielte eine international prägende Rolle. Die Geschichte der magnetischen Kernresonanzspektroskopie NMR ist für beide Trends exemplarisch.
Die naturwissenschaftliche Grundlagenforschung hat seit Mitte des 20. Jahrhunderts durch die Einführung von physikalischen Instrumenten und Computern bzw. Computersoftware immer neue Technisierungsschübe erfahren. Insbesondere die laufende Verbesserung von Methoden zur chemischen Strukturanalyse auf molekularer Ebene war die Bedingung dafür, elementare Prozesse des Lebens einerseits und Materialeigenschaften andererseits zu verstehen und zu manipulieren. Dies war beim Elektronenmikroskop nicht anders als bei der Infrarotspektroskopie, die erst seit den 1940er-Jahren aufnahmetechnisch leistungsfähiger und daher wissenschaftlich relevant wurde (Lenoir/Lécuyer 1995, 300). Der Erfolg der IR-Spektroskopie schuf im Prinzip den Markt für Messgeräte, die das elektromagnetische Spektrum von Molekülen im langwelligeren Radiowellenbereich jenseits des Infrarotbereichs erfassten.
Kalifornische Physiker, denen die Dominanz der im grossen Stil betriebenen Atomforschung an den Universitäten im Nachkriegsamerika nicht in die eigenen Forschungspläne passte, gründeten kurzerhand Privatfirmen. Diese arbeiteten – mit grosszügiger finanzieller Unterstützung der Navy – an Instrumenten für diesen Markt. Bei der Firma Varian Associates in Palo Alto war man sich einig, dass die auf der Registrierung des Eigendrehimpulses von Protonen beruhenden Möglichkeiten zur Anwendung von NMR in der Chemie beträchtlich waren. Diese Annahme wurde noch bestärkt, als klar wurde, dass "die Resonanzfrequenz eines gegebenen Atomkerns in empfindlicher Weise von der lokalen Umgebung, das heisst von den Nachbaratomen und von der räumlichen Lage im Molekül" abhing (Wokaun 1991).
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Richard Ernst beim Bedienen des C1024 Time Averaging Computers zum Überspielen der Impulse-Response-Daten auf den Card Punch nach einem Pulsexperiment. 1964, Varian Associates, Palo Alto, California.
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Die Frequenzen aller Impulse oder Kernspins der Probe zusammengenommen boten damit hoch aggregierte Information. Entwicklungsziel war es zunächst, sie anschaulich darzustellen. Der erste kommerzielle Varian-Spektrometer erfüllte die Anforderungen an Sensitivität, Stabilität und Reproduzierbarkeit der Ergebnisse: Alle weiteren Verbesserungen sollten direkt mit den zukünftigen Nutzern ausgehandelt werden. Das Know how der Anwender war für eine Optimierung der Apparate unerlässlich (Joerges/Shinn 2001).
Um den Apparat unter die Leute, respektive in die Universitätschemie zu bringen, richtete Varian ein anwendungstechnisches Labor ein, das den interessierten Käufern erste Informationen und praktische Erfahrungen mit auf den Weg gab und die Weiterentwicklung und Feinjustierung des Instruments für die vorgesehenen Einsatzbereiche gemeinsam mit Anwendern vorantrieb. Der Absatz zog an und bald konnten auch ausserhalb Kaliforniens Verkaufs- und Servicestellen eröffnet werden. Begleitend dazu wurden Workshops angeboten, die ebenfalls Neugier wecken und Wissen über NMR verbreiten sollten. Damit der Funke auch auf Europa übersprang, wurden in den 1960er-Jahren regelmässig Workshops in Zürich abgehalten (Lenoir/Lécuyer 1995, 317). An der dortigen ETH war im Übrigen auch eines der Varian-Anwendungslaboratorien untergebracht (Dies., 321). In den Schulratsakten ist der Einzug eines Privatunternehmens in ein ETH-Hochschulgebäude allerdings mit keinem Wort erwähnt.
Wahrscheinlich hatte Hans-Heinrich Günthard die Initiative für Zürich ergriffen. Günthard war seit 1952 ausserordentlicher und 1959–82 ordentlicher ETH-Professor für physikalische Chemie. Er machte sich mit Unterstützung von Leopold Ruzicka und der Schulleitung daran, den im Zweiten Weltkrieg erreichten Aufschwung der Elektronik und Experimentaltechnik in den USA auch für die chemische Forschung an der ETH zu nutzen: Die ersten Apparate, Infrarot- und Kernresonanzspektrometer, bauten Günthard und seine Mitarbeiter Anfang der 1950er-Jahre sogar selbst (Günthard 1981, 39).
1963 vermittelte der Zürcher Varian-Mitarbeiter Günthards Doktoranden Richard Ernst in die USA (Lenoir/Lécuyer 1995, 321). Zusammen mit Weston Anderson arbeitete Ernst bei Varian daran, die Nachweisempfindlichkeit des Spektrometers zu verbessern, was erstemals 1964 gelang.
"In der klassischen NMR-Spektroskopie wird die Frequenz eines Senders so lange durchgestimmt, bis Resonanzabsorption stattfindet. Dies entspricht der Bestimmung der Resonanzfrequenz einer Stimmgabel mit einem Synthesizer: man variiert die Frequenz, bis die Stimmgabel zu klingen beginnt. Es gibt aber eine weit einfachere Methode: nach kurzem Anschlagen wird die Eigenfrequenz spontan abgegeben."
(Wokaun 1991)
Ernst übertrug das Prinzip der Stimmgabel auf die magnetische Resonanz, indem er einen kurzen und intensiven Radiofrequenzimpuls anlegte und dadurch die magnetischen Momente aller Kerne gleichzeitig provozierte. Diese Datenmenge an Signalen konnte per Fourier-Transformation und Computer in ein Spektrum zerlegt werden. Die Empfindlichkeit wurde so um das Hundertfache erhöht.
Die Anwendung eines "on-line computers für ein sehr komplexes und wesentlich nichtlineares Regelungsproblem in der chemischen Präzisionsmethodik" sei bisher einmalig und zeige Ernst nicht zuletzt als glänzenden Experimentator, wertete Günthard in Ernsts Habilitationsverfahren. Wenig später anerkannte man an der ETH mit der Verleihung des Ruzicka-Preises an Ernst, dass die "umfassende und tiefgründige Analyse der Probleme der Empfindlichkeitssteigerung" dabei war, die NMR-Methode in eine attraktive Forschungsressource zu verwandeln.
"Es besteht kein Zweifel, dass diese in zunehmendem Masse angewandt werden wird und speziell auch zum Durchbruch der Molekularbiologie massgebend beitragen wird."
(Schulratsprotokolle, SR2:1969, Sitzung vom 5.7.1969, 812)
In Zusammenarbeit mit einem weiteren NMR-Spezialisten vor Ort, dem späteren ETH-Professor für Biophysik Kurt Wüthrich, gelang dann Mitte der 1970er-Jahre die für dieses Feld entscheidende Entwicklung: die zweidimensionale Fourier-Transformation und ihre Anwendung in der NMR-Spektroskopie. Damit konnten die Struktur von Proteinen und Nukleinsäuren erstmalig in gelöstem Zustand bestimmt und biochemische Prozesse sowie molekulare Interaktionen von Enzymen und genetischen Informationsträgern im Detail studiert werden, erläuterte Richard Ernst anlässlich der Nobelpreisverleihung an Wüthrich 2002. Ernst hatte bereits 1991 den Nobelpreis für seine NMR-Arbeiten entgegennehmen dürfen.
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NMR transformierte also nicht nur die Forschungspraxis der Chemie, sondern auch die Praktiken der Molekularbiologie und Medizin: Aufnahmen am lebenden Organismus wurden möglich. Mit der ersten Magnetresonanzanlage, die 1986 im Zürcher Kinderspital aufgestellt wurde, liessen sich sogar molekulare Spektren des Säuglingsgehirns abbilden. In der klinischen Medizin wurde aber das bildgebende Verfahren der Magnet-Resonanz-Tomographie MRI besonders prominent. MRI lieferte noch viel anschaulichere Bilder als die gezackten Kurven der Spektroskopie: Zu sehen waren erstmals aus Schichtbildern konstruierte dreidimensionale Bilder der inneren Organe.
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Andrea Westermann