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Folgekosten kernphysikalischer Grossforschung

Am 1. Juli 1953 wurde in Paris die Übereinkunft zur Errichtung der Europäischen Organisation für Kernforschung CERN abgeschlossen. Auch die Schweiz verpflichtete sich, jährliche Beiträge in Höhe von rund drei Millionen Franken zu bezahlen. Schon bald zog das Engagement weitere Kosten nach sich, mit denen niemand gerechnet hatte.

Die Kooperation des CERN war eine Reaktion auf die Entwicklung der Physik hin zur big science, das heisst zu einer betriebsmässigen Grossforschung, die sich um stets aufwändiger werdende Experimentalanlagen organisierte. Die Architekten des Projekts, zu denen auch der ETH-Physikprofessor Paul Scherrer gehörte, teilten die Überzeugung, dass kein westeuropäisches Land alleine in der Lage sei, die in Zukunft notwendige Forschungsinfrastruktur bereitzustellen. Ohne länderübergreifende Kooperation, so der Tenor, würde die Erforschung bestimmter Fragestellungen der Kernphysik sehr bald nur noch an amerikanischen Grosslabors möglich sein.

Besonders deutlich zeigte sich diese Entwicklung bei den Teilchenbeschleunigern. Unter Scherrer hatte die ETH in der Entwicklung dieses Forschungsinstruments seit dem Bau einer Van de Graaff-Anlage ab 1936 und der darauf folgenden Entwicklung eines Cyclotrons weltweit gut mithalten können. In diesen Projekten hatte Peter Preiswerk, der 1954 die Leitung der Abteilung Sites et Bâtiments des CERN in Genf übernahm, zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter, 1946 als Privatdozent und seit 1950 als Titularprofessor kernphysikalisches Wissen gewonnen – und zugleich auch technische Expertise und wissenschaftliches Renommee. In den 1950er-Jahren begannen die ETH-Geräte bereits zu veralten. Sie waren nicht mehr leistungsfähig genug, um an ihnen die neuesten, international diskutierten Forschungsfragen zu studieren.

Die Zusammenarbeit im CERN gewährleistete, dass die Schweiz den Anschluss an die Spitzenforschung nicht verlor. Aber damit war die Verpflichtung verbunden, den stetig wachsenden Bedarf an Forschungsmitteln zu decken. Aus den regulären Beiträgen an den Betrieb der Forschungsanlage in Genf ergaben sich in der kantonal gegliederten Schweizer Forschungslandschaft Folgekosten, die so nicht geplant waren. Bereits 1965 etwa forderte der Bundesrat in seiner Botschaft "über den weiteren Ausbau der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) und der mit ihr verbundenen Anstalten" die Summe von 92,5 Millionen Franken für den Bau einer kernphysikalischen Versuchsanlage (Bundesblatt 1965 II, 978f.).

Die Begründung war pikant: Nur mit einem Beschleuniger hoher Intensität für Protonen von 500 MeV könne die Schweizer Kernphysik ihren Nachwuchs auf das Niveau bringen, das für erfolgreiche Mitarbeit an den Projekten des CERN zwingende Voraussetzung sei. "Zu jedem Spitzenprodukt, wie dem des internationalen CERN, gehört ein entsprechender Unterbau aus nationalen Forschungszentren", schrieb der Bundesrat und folgerte: "In der Schweiz leiden wir gegenwärtig ausgesprochen an dieser Niveaudifferenz zum CERN" (Dies., 981).

Um die Schwäche zu beheben, plante die ETH in Villigen, also in ummittelbarer Nachbarschaft zu dem ebenfalls vom Bund unterhaltenen Eidgenössischen Institut für Reaktorforschung EIR, ein Institut für Nuklearforschung SIN, das mit seiner "relativ zentralen Lage die Schweizer Universitäten zur Mitarbeit einlädt" (Dies., 986). Dies erwies sich jedoch als eher schwierig. Denn die Universitäten Zürich und Basel hatten bereits mit Vorstudien für eine kernphysikalische Anlage begonnen. Ferner hatte man ihnen bereits Nationalfondsgelder in Aussicht gestellt, die dem ETH-Projekt fehlen würden. Eine ausgeprägte Konkurrenzsituation entstand.

Gemeinsam mit dem Professor für Experimentalphysik Jean-Pierre Blaser trat der eben neu gewählte Schulratspräsident Jakob Burckhardt im Frühjahr 1966 die Flucht nach vorn an. Mit einer Umfrage bei allen interessierten Physikprofessoren der Schweiz und unter geschickter Einbeziehung des im Jahr zuvor gegründeten Wissenschaftsrates konnten sie ihr Projekt verteidigen. Der Wissenschaftsrat qualifizierte die Basler und Zürcher Beschleunigeranlage als "nicht wünschbar", hielt aber fest, bei der weiteren Konkretisierung des Villiger Projekts seien "psychologische Belange" sorgfältig in Rechnung zu stellen. Die Kooperation müsse so aufgebaut werden, dass die kantonalen Universitätsphysiker dort "weniger als Gäste denn als Teilhaber arbeiten können" (Schulratsprotokolle, SR2:1966, Sitzung vom 12.6.1966, 278).

Burckhardt stellte nach diesem Entscheid des Wissenschaftsrates eine Leitungskommission für das Institut in Aussicht, die analog zur Führungsstruktur des CERN ausschliesslich aus Wissenschaftler bestehen sollte. Man müsse "alles vermeiden, was den Anschein erwecken könnte, der Schulrat oder die ETH wollten der Kommission ihren Willen diktieren", lautete seine Devise (Schulratsprotokolle, SR2:1966, Sitzung vom 8.7.1966, 560). In diesem Sinne bemühte er sich, unter anderen den späteren Nobelpreisträger Georges Charpak als Vertreter des CERN sowie einen Schweizer Vertreter des Deutschen Elektronen-Synchrotrons DESY in Hamburg in die Führungsverantwortung einzubinden.

Doch auch ETH-intern formierte sich Kritik. Im Juli 1966 hielt Rektor Leibundgut fest, im Lehrkörper bestehe eine "gewisse Missstimmung", weil man den Eindruck habe, "bei der Kern- bzw. Hochenergiephysik genügten Anträge einzelner Dozenten, um den Schulrat zu Beschlüssen zu veranlassen, während in anderen Fachrichtungen wohlbegründete Anträge ganzer Abteilungen nicht zum Ziele führten" (Schulratsprotokolle, SR2:1966, Sitzung vom 8.7.1966, 564). Insbesondere die Bauingenieure fühlten sich gegenüber der Physik benachteiligt. In der Tat vermochte die Nukleartechnik noch bis in die ausgehenden 1960er Jahre grosse Zukunftshoffnungen zu wecken und eindrückliche Geldflüsse auszulösen. Fast etwas schuldbewusst gestand der Schulrat im Dezember 1966 ein, dass andere "dringliche Aufgaben der Hochschulförderung ... dem Hochenergieprojekt nicht hintangestellt werden" dürften (Schulratsprotokolle, SR2:1966, Sitzung vom 10.12.1966, 773).

Dass die Versuchsanlage in Villigen schliesslich 1974 ihren Betrieb aufnehmen konnte, ist weitgehend der Intervention des Schweizerischen Nationalfonds zu verdanken. Mit seinem ganzen Prestige setzte sich dessen leitende Persönlichkeit, Alexander von Muralt, 1967 dafür ein, dass Zürich und Basel ihre eigenen Pläne mit dem ETH-Projekt verbanden. Blaser hatte einige konzeptionelle Änderungen an der geplanten Anlage vorgestellt, so dass die von Basel und Zürich gewünschten Experimente durchführbar würden. Die durch die Kompatibilisierung entstehenden Mehrkosten von 8,5 Millionen Franken übernahm der Nationalfonds (Schulratsprotokolle, SR2:1967, Sitzung vom 4.2.1967, 5).

Sämtliche wissenschaftspolitische Instanzen der Schweiz hatten dem Projekt eines Schweizerischen Instituts für Nuklearforschung SIN Pate stehen müssen. Dabei war allen Akteuren klar geworden, dass das SIN wegen der zur Debatte stehenden Geldbeträge wahrscheinlich "das letzte in der Schweiz realisierbare Grossprojekt der Physik" darstelle (Schulratsprotokolle, SR2:1966, 10.12.1966, S. 773). Diese Einschätzung teilte auch Bernard Grégory, der Direktor des CERN, als er das Villiger Projekt 1967 als "remarquable" bezeichnete und als letzte Hoffnung unter den realisierbaren Projekten in Europa (Schulratsprotokolle, SR2:1967, Sitzung vom 4.2.1967, 6). Seither haben sich die Investitionen auf die Aufrüstung bestehender Forschungsanlagen beschränkt.

Daniel Speich

   
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