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"Reine und angewandte Naturwissenschaft" beim Mineralogen Paul Niggli

1928, 1929 und 1930 begrüsste der Mineraloge Paul Niggli in seiner Funktion als ETH-Rektor die Erstsemester jeweils damit, dass er das Begriffspaar "reine und angewandte Wissenschaft" problematisierte. Dabei warb Niggli für seine Disziplin als theoretische Grundlagenwissenschaft.

1929 griff Niggli die Veränderung auf, welche die technischen Hochschulen "in den letzten zwei Jahrzehnten" erfahren hätten. Die technischen Hochschulen betrieben "unter warmer Befürwortung durch hervorragende Männer der Praxis" immer mehr wissenschaftliche Forschung. Dabei liege der programmatischen Forderung für den Ausbau dieser Hochschulen ein spezieller Begriff der angewandten Wissenschaften zugrunde. Sie würden als "auf die Lösung praktischer Fragen des Lebens, insbesondere technischer Probleme" angewandte Naturwissenschaften betrachtet und zu den Bedingungen für Volkswohlfahrt und nationalen Wohlstand gezählt.

"Wissenschaft mit unmittelbarem Nutzeffekt, praktische Wissenschaft also! Klar und einfach scheint von diesem Standpunkt aus die reinliche Scheidung zu sein: 'Universität und reine Naturwissenschaft, Technische Hochschule und angewandte, praktische Naturwissenschaft', klar und einfach, sofern die Trennung in reine und in diesem Sinne angewandte Wissenschaft eine von selbst gegebene und eine durchführbare ist. Ist sie aber das? Nur eine Untersuchung über die natürliche Systematik der Wissenschaften wird darüber Auskunft geben."

(Niggli 1928, 3)

Mit diesen nur angedeuteten Spezialdiskussionen konfrontiert, waren die Neuankömmlinge an der ETH gleich mit grossen Schlagwörtern bekannt gemacht, aber wahrscheinlich auch überfordert. Ihre Zeitzeugenschaft reichte nicht lange genug zurück, um den Hintergrund der Debatten zu überblicken. Dies war einmal die Debatte um den "Kulturwert der Technik", die keineswegs immer zu so positiver Bilanz wie einer Erhöhung der "Volkswohlfahrt" gelangte. Zum anderen sprach Niggli die jahrzehntelangen Abgrenzungsbemühungen der technischen Hochschulen an, die sich einerseits von den einfachen Technika, andererseits von den Universitäten unterschieden sehen wollten. Drittens hörten Nigglis Kollegen sicherlich schon an dieser Stelle einen Kommentar zu den Konkurrenzbeziehungen heraus, die sich innerhalb der technischen Hochschulen zwischen Natur- und Technikwissenschaften herausgebildet hatten.
Paul Niggli (1888–1953)
Paul Niggli (1888–1953)

1930 thematisierte Niggli die entscheidende Hintergrunddiskussion direkt, die seit der Jahrhundertwende vor allem im deutschsprachigen Raum 'die Technik' 'der Kultur' gegenübergestellte. Die mit den technischen Fortschritten verbundene Industrialisierung habe "neue soziale Probleme" aufgeworfen und "in der Gegenüberstellung von Kultur und Technik, von Kunst und Technik, wird oft Wesentliches des ganzen Zwiespalts empfunden" (Niggli 1930, 9). Die Debatte kannte affirmativ-euphorische und ablehnend-resignierende Haltungen zur Technik. Die interessanten Beiträge waren nicht durchgehend kulturpessimistisch geprägt und suchten einen konstruktiven, die eigene Nation stärkenden statt zum Untergang verurteilenden Umgang mit den Zumutungen der industriellen Welt: den "Massen" und der "Arbeiterfrage", dem Grossstadtleben und der Technisierung. Auch im – zumeist eigenen – bürgerlichen Umfeld wurden Schwächen ausgemacht (Schulin 1988, 85). So kritisierte Niggli einen als naiv eingeschätzten Antireflex auf Technik und Wissenschaft und beklagte die Ignoranz, die sich in der kolportierten Meinung Alfred Döblins spiegele, die schönsten Naturdinge würden durch Mathematik "traktiert, einseitig behandelt und verarmt" (Niggli 1929, 4).

Die Etablierung des Polytechnikums als regelrechte Hochschule war die zweite Anspielung des Rektors. Dieser Prozess war mit der Einführung der bislang universitären Privilegien Studienfreiheit und Promotionsrecht 1909 zu einem vorläufigen Abschluss gekommen. 1914 hatte die Universität Zürich ausserdem ein eigenes Gebäude bezogen, so dass die neue Autonomie auch im Stadtbild verankert war. Das Ende der "Universitas" oder Universität als einem Ort, an dem sich alle Wissensgebiete versammelten, war mit dieser Entwicklung tatsächlich erreicht.

Die dritte Debatte war eng mit den beiden anderen verbunden und hierein floss Nigglis Herzblut. Alle Versuche, die Wissenschaft auf natürliche Weise in Einzeldisziplinen zu zergliedern, hätten deutlich gemacht, so Niggli, dass nach Inhalt und Methode die Wissenschaft eine grosse Einheit darstelle. Die Gliederung könne keine prinzipielle, sondern nur eine "natürlich ökonomische" sein. Weder Methoden, noch innere Beweggründe oder Ziele der Forscher seien ausschlaggebend. So halte die formale Einteilung in exakte und beschreibende Naturwissenschaften im Beispiel der Mineralogie nicht stand, denn jene hatte für den Bergbau nicht nur die Mineralien zu klassifizieren, sondern auch unter Verwendung chemischer und physikalischer Methoden die Gesetze ihrer Bildung zu erkunden (Niggli 1928, 4).

Das Einheitliche eines Wissensgebietes lasse sich nicht "künstlich" nach Werturteilen zergliedern, "die den Naturwissenschaften an sich fremd sind". Eine Systematik sei am besten nach den "empirisch gegebenen Gegenständen" vorzunehmen. Man könne die natürlichen Gegenstände von den menschengemachten als "neues Objekt der wissenschaftlichen Untersuchung" unterscheiden. Wobei auch hier Feinheiten zu beachten seien:

"Wenn der Chemiker oder Kristallograph, unter Benutzung gefundener Gesetze Substanzen herstellt, die in der Natur nicht angetroffen werden, vielleicht sogar mit der Absicht, sie technisch zu verwenden, so ist das nicht Technik, sondern Naturwissenschaft."

(Niggli 1928, 14)

Dem "chemischen Grossbetrieb" widmeten sich dagegen die an technischen Hochschulen angesiedelten Technikwissenschaften. Diese Hochschulen würden, ermahnte der Rektor, zu reinen Anleitern für die zweckmässige Ausführung schon bestehender technischer Werke, "wenn in ihnen nicht die reinen, in eminenter Weise praktisch wichtigen Naturwissenschaften den breitesten Raum einnehmen" (ebenda).

Für Niggli ergab sich der Autoritätsvorsprung der Naturwissenschaften dadurch, dass sie die moderne Welt, in der tausend Tendenzen auseinanderstrebten, mathematisch-introspektiv zusammenhalten konnten. Symbol dafür waren für den Mineralogen Niggli immer wieder der Kristall und seine durch die Röntgenstrukturanalyse seit 1912 umso umfassender nachgewiesenen Symmetrieverhältnisse. Die Kristalle und ihre Ästhetik zeugten von einer tiefen Ordnung der Natur. Vermeintlichen Störungen, den oft zu beobachtenden Abweichungen von diesen Symmetrien, verdanke man gerade die unterschiedlichsten Eigenschaften der Materialien und ihre Manipulierbarkeit, so widerlegte Niggli "den Eindruck wissenschaftlichen Versagens" (Niggli 1929, 4). An diesen komplizierten Ordnungs- und Wahrheitsbeziehungen sollte sich seiner Meinung nach die Gesellschaft in ihrer ganzen klassenpolitischen Zerrissenheit orientieren. Es gelte, sich jenseits des "Chaos der Erscheinungen" und des "Wirbels persönlichen Erlebens" ein "Weltbild" zu schmieden, das die "Ruhe der grossen Natur atmet". Der überaus schweizerische Topos von der zu pflegenden "Einheit in der Mannigfaltigkeit" wurde bei Niggli zu einer Beschwörungsformel, die nicht nur auf das Wissenschaftssystem anzuwenden war (Niggli 1930, 10).

Andrea Westermann

   
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